In der Schule kommt es sicherlich nicht oft vor, aber im lernHAUS Altenessen durchaus: Die ersten beiden Kinder sind an diesem Nachmittag schon vor dem Beginn da. Susanna Taube und Lorina Schleberg, die beiden Sozialarbeiterinnen, die das lernHAUS hauptamtlich betreuen, waren gerade noch in ihrem Büro dabei, einige Details zum bevorstehenden Arbeitstag abzustimmen, als es an der Haustür klingelt. Mustafa (9) und Lilian (8) sind überpünktlich. Da das Wetter gut ist, geht es zunächst auf den hinterm lernHAUS liegenden Spielplatz. „Wo ist der Ball?“, will Mustafa wissen, um draußen damit zu kicken.
Vier lernHÄUSER in Altenessen, Borbeck, Zollverein und Stadtmitte betreibt der Kinderschutzbund Essen. Dort kümmern sich 16 Fachkräfte und rund 40 Ehrenamtliche an fünf Nachmittagen pro Woche um benachteiligte Kinder und Jugendliche. Die kostenlosen lern- und sozialpädagogischen Angebote reichen von der individuellen Lernförderung über Sprachförderung, Hausaufgabenbetreuung und Ferienangebote bis zur Berufsvorbereitung.
Ankommen und entspannen
Während Mustafa Fußball spielt, lässt sich Lilian von Lorina Schleberg eine Umfrage erklären. Auf einem Plakat stehen viele Aktivitäten für lernfreie Tage, zum Beispiel in den Ferien, über die die Kinder abstimmen können. Die Vorschläge reichen vom Kino- oder Zoobesuch über einen Ausflug zum Wasserspielplatz bis zum Fußballturnier. „Kino?“ Lilian ist sich nicht sicher, was das Wort bedeutet. Nachdem Schleberg es ihr erklärt hat, markiert sie den Vorschlag begeistert mit einem Punkt. „Im Kino war ich noch nie.“
Taube und Schleberg erwarten heute acht Grundschüler und im Anschluss acht Schüler, die die weiterführende Schule besuchen. Alle Kinder und Jugendlichen nehmen freiwillig an dem Angebot teil. Sie haben feste Tage, an denen sie ins lernHAUS kommen. Die Grundschüler treffen zwischen 13.30 und 14 Uhr ein und haben Zeit, sich zu bewegen, zu erzählen und sich zu entspannen, bevor die Lernzeit beginnt.
Inzwischen sind auch Hamza (7) und die Schwestern Abire (9) und Sahar (7) da. Hamza gesellt sich zu Mustafa, um zu kicken; Abire und Sahar stimmen ebenfalls über Aktivitäten ab. „Teure Ausflüge“ steht über der Spalte, die den Zoo- oder den Kinobesuch beinhaltet. „Wer bezahlt das?“, fragt Abire. Sie ist beruhigt, als sie erfährt, dass ein Ausflug nur ein oder zwei Euro kostet. Die restlichen Kosten finanziert das lernHAUS über Spenden.
Mahlzeit vor der Lernzeit
Dann wird noch ein wenig geschaukelt, bevor die Kinder ins lernHAUS zurückkehren, wo mittlerweile Wahib (8), Haifa (9) und Azza (7) angekommen sind. Alle versammeln sich in der Küche, um eine gemeinsame Mahlzeit vorzubereiten. Sie schnippeln Erdbeeren und Bananen, legen Brot, Käse und Marmelade bereit und decken den großen Tisch. Bevor alle zulangen dürfen, stimmt Susanna Taube ein Lied an, um ein wenig Ruhe in die Kindergruppe zu bringen.
Die Brote sind noch nicht aufgegessen, als die Ehrenamtlichen Ingeborg Schlottmann und Maria Müller eintreffen. Seit neun beziehungsweise sieben Jahren engagieren sie sich im lernHAUS und unterstützen die Grundschüler bei den Hausaufgaben. Müller schätzt an der Aufgabe, dass sie mit mehreren Generationen zusammen ist: mit den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen sowie den Kindern. Sie und Schlottmann sind sich einig, dass ihre Hilfe sowohl erforderlich als auch erfolgreich ist. „Manche Kinder gehen später zum Gymnasium“, weiß Schlottmann. Bei den Grundschülern sind die Ehrenamtlichen sehr beliebt. „Maria kommt heute mit mir!“, rufen Sahar, Abire und Haifa hoffnungsvoll.
Zusammen wechseln die Kinder, die Ehrenamtlichen und Susanna Taube und Lorina Schleberg in die zwei Räume, in denen vorrangig gelernt wird. Hell und farbenfroh sind die Zimmer, mit Tischen, kleinen und regulären Stühlen, mit Plakaten und Bildern an den Wänden sowie mit Regalen, die angefüllt sind mit Lernmaterial für jedes Schuljahr.
"Schüchterne Meisen" sorgen für Ruhe
Eine schöne Atmosphäre zum Lernen, doch so wirklich steht Lilian, Sahar, Abire und Haifa nicht der Sinn danach. Deshalb hilft Schleberg nach. Sie hält eine Schachtel mit bunten Tonvögeln hoch und sagt: „Es sind schüchterne Meisen, die es leise mögen, und sie kommen nur zu Kindern, die leise sind.“ Das wirkt. Die Mädchen holen ihre Hefte hervor und bearbeiten ihre Hausaufgaben. Es dauert gar nicht lang, bis die Vögel ihnen einen Besuch abstatten.
Buchstabier- und Grammatikübungen müssen zwei Kinder erledigen; zwei andere müssen Matheaufgaben lösen. Schleberg hilft beim Buchstabieren. Ein Finger ist auf der Zeichnung im Übungsheft abgebildet. Die Schülerin zögert beim Schreiben des Wortes. „Was hörst du am Anfang?“, fragt Schleberg. „Ffff“, antwortet das Mädchen, das in die zweite Klasse geht. Buchstabe für Buchstabe erarbeitet es sich so das Wort. Mit der Division beschäftigt sich ein anderes Mädchen. Kein Problem, das Einmaleins sitzt. Eine Aufgabe bereitet jedoch Schwierigkeiten: Es wird nach dem Rest beim Dividieren gefragt. „Was bedeutet das?“ Das Mädchen zeigt auf den Buchstaben R in seinem Heft. Maria Müller erklärt, dass beispielsweise bei der Aufgabe 43:5 die Antwort „8 Rest 3“ lautet.
„Ich habe schon eine Seite Mathe fertig. Dann ist nur noch eine Seite übrig“, freut sich Haifa, als die Kinder nach etwa 45 Minuten eine kurze Pause machen dürfen. Die Neunjährige besucht das lernHAUS Altenessen seit dem vergangenen Schuljahr und kommt gern dort hin. „Die Lehrerin ist sehr nett und hilft mir bei den Hausaufgaben.“ Am besten gefallen Haifa jedoch die Spiel- und Freizeitangebote. Genauso empfindet es Mustafa, der zusammen mit den übrigen Kindern im Nachbarraum lernt.
Schreibübungen und Lernaufgaben
Ingeborg Schlottmann unterstützt dort ein Kind, das die zweite Klasse besucht, bei Schreibübungen. „Hier wirst du beim Abstand größer, hier schreibst du schön zusammen.“ Immer wieder weist sie das Kind daraufhin, wie wichtig es ist, auf den Abstand zwischen Buchstaben und Wörtern zu achten, damit ein Satz lesbar ist. Ganz langsam malt das Kind die einzelnen Buchstaben. Dabei stolpert es über das Wort Fluss. „Fluss kann man doch nicht anfassen“, hinterfragt das Kind die Rechtschreibregel zur Großschreibung. „Aber Wasser kann man anfassen“, erklärt Schlottmann.
Etwa 85 Prozent der Kinder, die die lernHÄUSER besuchen, haben einen Migrationshintergrund. Viele von ihnen sprechen kein Deutsch zuhause. Einen Akzent hat fast keines. „Aber wenn man länger mit ihnen spricht, merkt man, dass einige Kinder einen sehr geringen Wortschatz haben und nicht alle Wörter kennen“, erläutert Schleberg. Das schlägt sich auf das Schreib- und Leseverständnis der Kinder nieder.
Spielerisches Vokabeltraining
Sind die Hausaufgaben erledigt, aber die Lernzeit ist noch nicht vorbei, halten Susanna Taube und Lorina Schleberg weitere Lernaufgaben bereit. An diesem Nachmittag trainiert Taube mit zwei Kindern spielerisch englische Vokabeln. Auf dem Tisch liegen Karten mit Bildern und Wörtern, und die Sozialarbeiterin nennt beliebige Wörter. Wenn das Wort auf einer der Karten steht, gewinnt derjenige die Karte, der am schnellsten aufzeigt. Es ist ein knapper Wettkampf, und beide Kinder strengen sich an, möglichst viele Karten zu bekommen.
Um 15.30 Uhr ist die Lernzeit vorüber, und die Grundschüler verabschieden sich. Um 16 Uhr beginnt das Angebot für die Schüler der weiterführenden Schulen. Schüler von der Förderschule bis zum Gymnasium, von der fünften Klasse bis zum Abitur besuchen das Angebot des lernHAUSES.
Taube und Schleberg nutzen die halbe Stunde, um etwas zu essen und die Küche aufzuräumen. Auch Bürotätigkeiten, wie E-Mails checken und Telefonate führen, erledigen sie während dieser Zeit.
Auf die Grundschüler folgen die älteren Schüler
Der Ablauf für die älteren Schüler ist strikter als der für die Grundschüler. Sind sie angekommen, können sie sich noch einige Minuten unterhalten und sich einen Snack in der Küche machen, aber dann beginnt bereits die Lernzeit. Emir (13), Abdel (13), Hamzeh (11), Wateen (14), Rimas (11), Emilia (12) und Bahriah (16) verteilen sich ohne Aufforderung auf die beiden Räume und nehmen Platz. Ein deutliches Wort von Susanna Taube ist allerdings erforderlich, damit alle ihre Smartphones wegpacken.
„Wer hat Hausaufgaben auf?“, fragt die Sozialarbeiterin die vier Schüler in Raum 2. Das betrifft nur Emir, der für den Matheunterricht Multiplikationen lösen muss. Für Abdel, Hamzeh und Wateen überlegt sich Taube eine Englischaufgabe, die sie gemeinsam machen können, obwohl sie in unterschiedlichen Jahrgangsstufen sind. Arbeitsblätter mit Zeichnungen, auf denen Figuren und Kleidungsstücke zu sehen sind, sucht Taube heraus. Damit können die drei Schüler die Fragewörter „who“ und „where“ und die Ordnungszahlen trainieren. „Where are the blue jeans?“, fragt Hamzeh, und Wateen zählt für ihre Antwort die abgebildeten Wäscheleinen ab.
Hilfe für den Englisch- und Deutschunterricht
Ebenfalls mit der englischen Sprache beschäftigt sich Rimas. Sie lernt zurzeit im Unterricht, wie die Uhrzeiten im Englischen benannt werden, und soll eine Aufgabe dazu bearbeiten. Schleberg hilft ihr dabei, malt ein Zifferblatt auf und zeichnet verschiedene Uhrzeiten ein, damit Rimas sich daran orientieren kann.
Bahriah arbeitet zunächst allein. Sie muss für den Deutschunterricht ein Gedicht der deutschen Lyrikerin Sarah Kirsch interpretieren. Später wird die Ehrenamtliche Sigrun Ehrlein zu ihr kommen. Gemeinsam tauschen sie sich über die Entstehungszeit des Gedichts und seinen Aufbau aus. Auch über Bahriahs weitere Schulkarriere reden sie. „Weißt Du schon, welche Leistungsfächer du wählen wirst?“, fragt Ehrlein. Für Deutsch und Sozialwissenschaften hat sich Bahriah entschieden. „In Sowi kann man viel reden. Das ist mein Lieblingsfach.“
Ein wenig verspätet ist Abdel-Nur (16) eingetroffen. „Was hast du auf?“, möchte Schleberg von ihm wissen. Er soll eine Kurzgeschichte analysieren. „Ich mache erst mal die Aufgabe zum Leseverstehen“, kündigt Abdel-Nur an und vertieft sich in den Text.
Susanna Taube sowie Abdel, Hamzeh und Wateen sind inzwischen zu einer anderen Beschäftigung übergegangen. Sie machen ein Knickspiel, bei dem die Satzglieder Subjekt, Prädikat, Dativ- und Akkusativobjekt vertieft werden. „Lorina frittiert Pommes neben einem Spielplatz“, lautet einer der bei dem Spiel entstandenen Sätze. Nicht nur dieser, sondern auch viele andere kuriose Sätze bringen die vier zum Lachen.
Ansonsten wirken die älteren Schüler deutlich ruhiger und konzentrierter als die Grundschüler zuvor. So wie Emir, der weiterhin seine Multiplikationsaufgaben löst, bis Sigrun Ehrlein zu ihm kommt und sie mit ihm durchgeht. „Die Neuner-Reihe kannst Du aber schnell“, fällt ihr auf, und Emir verrät ihr den Trick, warum er sich diese Reihe besonders gut merken kann.
Ehrenamtliche unterstützen die Schüler
Ehrlein engagiert sich seit sechs Jahren als Ehrenamtliche im lernHAUS. „Es ist ein toller Ort, an dem die Kinder unterrichtet werden“, erzählt sie, „und mir macht es Spaß, die Kinder zu unterstützen.“ Die meisten Ehrenamtlichen helfen entweder ausschließlich den Grundschülern oder den Schülern der weiterführenden Schulen. Vor allem für die älteren Schüler sind auch einige ehemalige Lehrer im Einsatz. „Sie können dann zum Beispiel Schülern helfen, die Mathe-Leistungskurs haben“, erläutert Schleberg.
Bis 17.15 Uhr dauert die Lernzeit. Dann gibt es eine kleine Pause, in der Wateen, Emir, Hamzeh und Abdel sofort ihre Smartphones zücken. Manche Schüler lernen danach noch weiter, andere spielen gemeinsam bis 18 Uhr, wenn das lernHAUS schließt.
Ausklang nach der Lernzeit
Nach der kurzen Pause können Wateen, Hamzeh und Abdel ihre Handys draußen lassen. Sie machen mit Susanna Taube ein Online-Spiel, bei dem sie die Lage von Ländern und Hauptstädten erkennen müssen. Rimas hat inzwischen ihre Englischhausaufgabe beendet. Sie geht hinüber in den Essraum, wo auch die Bastelmaterialien sind, um ein Geburtstagsgeschenk für eine Freundin einzupacken. Seit zwei Jahren besucht die Elfjährige regelmäßig das lernHAUS. „Ich komme gern hierhin. Ich kann meine Hausaufgaben machen und bekomme Hilfe.“ Besonderen Spaß bereiten ihr außerdem die Spiele und Freizeitangebote. „Im Sommer gehen wir manchmal schwimmen. Das ist super.“
Emilia, Rimas' heutige Tischnachbarin, war die gesamten zwei Stunden über mit ihren Hausaufgaben beschäftigt. Sie sollte verschiedene Fragen zu ihrem Lieblingsbuch beantworten. „Heute hatte ich viele Aufgaben, so dass ich leider nicht noch spielen konnte“, sagt sie zum Abschied zu Schleberg.
Die Sozialarbeiterin, Rimas, Bahriah und Sigrun Ehrlein stellen noch die Stühle hoch, denn an diesem Tag kommt die Reinigungskraft. Plötzlich geht alles sehr schnell, und die Schüler stürzen zur Ausgangstür. „Jungs!“, ruft Taube ihnen hinterher und hält eine vergessene Jacke hoch. Außerdem bittet sie Abdel und Hamzeh, ihre Gläser, aus denen sie in der Pause getrunken haben, in die Geschirrspülmaschine zu stellen. Dann sind alle Kinder und Jugendlichen weg, und Susanna Taube und Lorina Schleberg haben Feierabend.