Der „Internationale Tag der gewaltfreien Erziehung“ (30. April) soll die Verantwortung der gesamten Gesellschaft für das gewaltfreie Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in den Fokus rücken. Aktuell ist die Sorge um Kinder, die der Gewalt schutzlos ausgeliefert sind, besonders groß. „Wir befürchten derzeit eine steigende Dunkelziffer an Kindeswohlgefährdungen bei Säuglingen und Kleinkindern“, so Prof. Dr. Ulrich Spie, Vorstandsvorsitzender des Essener Kinderschutzbundes.
Anlass für diese Befürchtung ist eine besonders auffällig veränderte Altersstruktur der in den Notaufnahmen des Essener Kinderschutzbundes untergebrachten Kinder. „Lediglich zehn der bei uns untergebrachten Kinder waren jünger als sechs Jahre alt, davon waren neun Kinder im Alter von vier Jahren und ein Kind im Alter von zwei Jahren“, so Lena Bartoleit, Fachbereichsleitung Stationäre Hilfen. 83 Prozent der im ersten Quartal dieses Jahres in den Notaufnahmen untergebrachten Kinder waren bereits im schulpflichtigen Alter. Im Vergleich dazu waren im Vorjahr rund 40 Prozent der in den Notaufnahmen untergebrachten Kinder unter sechs Jahre alt, davon 11 Prozent Säuglinge und Kleinkinder. „Wir befürchten, dass derzeit Kindeswohlgefährdungen von Säuglingen und Kleinkinder nicht bemerkt werden, weil die Frühwarnsysteme und bewährte Schutzkonzepte während des Lockdown nicht greifen können“, so der Kinderschutzvorsitzende Prof. Dr. Ulrich Spie.
Bereits im ersten Lockdown 2020 zeigte sich bei den Kindernotaufnahmen eine dramatische Veränderung hinsichtlich der Anzahl der Anfragen. „Wir hatten lediglich eine einzige Anfrage nach Unterbringung für ein Kind in dem Zeitraum als die Kindertageseinrichtungen und Schulen geschlossen hatten“, so die Fachbereichsleitung Bartoleit. Nach der Wiedereröffnung der Schulen und Kindertageseinrichtungen Anfang Mai 2020 zählte der Kinderschutzbund bis zum zweiten Lockdown Anfang November 81 Anfragen. Insgesamt gingen in 2020 130 Anfragen nach einer Unterbringung ein, 83 Kinder konnten aufgrund fehlender Kapazitäten nicht aufgenommen werden.
„Schulpflichtige Kinder, die von Gewalt betroffen sind, suchen in den Phasen des Präsenzunterrichtes vermehrt Hilfe bei ihren Lehrinnen und Lehrern“, berichtet Bartoleit. Die Dramatik für Kinder und das Dilemma in der derzeitigen Situation besteht in vielfacher Hinsicht. „Die regulären Frühwarnsysteme können im Lockdown nicht greifen, Säuglinge und Kleinkinder fallen derzeit völlig durch das Netzwerk der Schutzkonzepte“, so Spie, „und Eltern geraten mit den nun seit fast einem Jahr zusätzlichen Anforderungen durch Betreuung und Homescooling immer mehr an ihre Belastungsgrenzen.“
So wird nicht nur eine hohe Dunkelziffer an Kindeswohlgefährdungen bei Säuglingen und Kleinkindern befürchtet, sondern eine generelle Zunahme an Gewalt und Missbrauch von Kindern. Bereits seit dem Jahr 2000 gilt in Deutschland das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Allerdings kam bereits im Vorjahr eine Studie von Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Universitätsklinikum Ulm, mit Unterstützung von Kinderschutzbund und UNICEF im November 2020 zu dem Ergebnis, dass trotz der maßgeblichen Reduzierung von Gewalt in der Erziehung seit 2016 keine maßgeblichen Veränderungen mehr festzustellen sind und rund 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen noch immer von Gewalt in der Erziehung betroffen sind. Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zeichnen ein ähnlich erschreckendes Bild: Die Vorjahr ermittelten die Behörden deutlich mehr Straftaten gegen Kinder, auch stiegen laut Polizeilicher Kriminalstatistik die Fälle von Missbrauch und häuslicher Gewalt. Einen Anstieg um mehr als 50 Prozent der Fälle wurden im Bereich der Kinderpornografie und anderer pornografischer Taten gezählt.
Spezialisierte Beratungsangebote für werdende und junge Eltern, die Beratung und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften, die Entwicklung von Frühwarnsystemen und Schutzkonzepten, Erziehungskurse für Eltern, Präventionsprojekte für Schulkinder, eine enge Zusammenarbeit mit dem Jugendamt und mit weiteren Akteuren der Kinder – und Jugendhilfe in Essen bilden ein breites Spektrum an Angeboten des Essener Kinderschutzbundes und wollen dieser Entwicklung entgegensteuern. „Auch im Vorjahr haben wir in unseren Beratungseinrichtungen über 1.000 neue Fälle gezählt“, so Heike Pöppinghaus, Fachbereichsleitung Kinderschutz. Dabei wurde das Angebot der seit 2015 zertifizierten online-Beratung vermehrt genutzt und stieg um 30 Prozent auf insgesamt 136 Fälle. „Erfreulich sind immer die Beratungsanfragen, in denen sich die Eltern selbst vertrauensvoll an den Kinderschutzbund wenden“, so Pöppinghaus, „ im letzten Jahre wurde besonders häufig eine Überforderung durch eine belastete Familiensituation als Grund genannt.“ Die Teams im Kinderschutz-Zentrum und der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche können entlasten und bieten professionelle Beratung und Hilfen an.
Der Kinderschutzbund Essen will auch in der Öffentlichkeit auf Gefährdungen von Kindern aufmerksam machen, nicht nur am „Internationalen Tag der gewaltenfreien Erziehung“ am 30. April. Der Essener Ortsverband startete gemeinsam mit zahlreichen Prominenten aus Kultur, Sport und Wirtschaft Anfang dieses Jahres eine Kampagne unter dem Motto „Kinder sind unantastbar! Wir sind Kinderschützer*innen in Essen“. „Der Kinderschutz braucht jedoch 365 gewaltfreie Tage der Erziehung und neben vielen Prominenten jeden Einzelnen in unserer Gesellschaft, der sich für den Kinderschutz engagiert und für das Wohlergehen von Kindern konkrete Verantwortung übernimmt“, betont der Kinderschutzvorsitzende Prof. Dr. Ulrich Spie.